Das Buch für Schwangere und die, die es werden wollen! Und natürlich auch für angehende Väter, Omas und Opas und andere Interessierte!
von Gerald Hüther und Ingeborg Weser und weiteren Co-Autoren: Dr. Sven Hildebrandt, Dr. Angelica Ensel, Esther Göbel, Dr. Karl Heinz Brisch
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In der Pubertät und im Jugendlichenalter steht Berührung vor allem im Zeichen der sich entwickelnden Sexualität. Berührungskontakte und Beziehungen mit dem (meistens) anderen Geschlecht werden erprobt. Eine neue Identität muss entstehen, bei der sexuelle Erregung, starke Liebesgefühle, Scham, Autonomiebedürfnisse trotz eines meist etwas brüchigen Selbstwertgefühls integriert werden müssen. Beim Experimentieren mit Berührung steht die Gruppe der Gleichaltrigen im Vordergrund. Erfahrungen von Über- und Unterforderung in diesem Bereich können sehr prägend sein für das Lebensgefühl des Jugendlichen.
Auch Erwachsene brauchen Berührung und Körperkontakt- auch jenseits einer sexuellen Begegnung. In unserer Gesellschaft wird mit Berührung allerdings oft schamvoll und zurückhaltend umgegangen. (außer bei „öffentlicher Sexualität“ in Werbung, Pornographie, Prostitution etc.) Berührungserfahrungen spielen sich traditionell höchstens in der Familie oder - in sexualisierter Form - „unter der Bettdecke“ ab. Aber: Obwohl (beinah) jede Form von Sexualität mit Berührung zu tun hat, hat aber nicht jede Berührung mit Sexualität zu tun! Manche Berührungen können entspannend, beruhigend und tröstend sein. Sie können auch vitalisieren und stärken. Sie können darauf ausgerichtet sein, die Verbindung zu anderen Menschen zu fühlen, herzustellen oder zu erhalten. Sie können Ausdruck von menschlicher Wärme und Liebe sein.
Zur Sexualität dagegen gehört das Element der sexuellen Erregung. Eine sexuelle Begegnung wird im Allgemeinen dann als besonders befriedigend erlebt, wenn die sexuelle Erregung mit Liebes- und Verbundenheitsgefühlen zum Partner/zur Partnerin einhergeht. Den Umgang mit sexuellen Gefühlen im Kontakt mit einem anderen Menschen lernt man übrigens über die Qualität der Berührungserfahrungen vom Anfang des Lebens an, auch wenn die Berührungserfahrungen des Kindes nichts zu tun haben mit Sexualität im engeren Sinne, sondern mit Beziehungserfahrungen und den damit verbundenen ganzkörperlichen Lustgefühlen (diese sind nicht nur auf die Genitalien ausgerichtet, sondern umfassen den ganzen Körper).
Bei allen Formen von Berührung kommt es auf die Qualität der Berührungserfahrungen an. Sowohl in der Kindheit als auch im Erwachsenenalter sollte Berührung in Resonanz mit den Bedürfnissen des Anderen stattfinden. Sie sollte die Grenzen des Anderen respektieren. Unangemessene Berührungserfahrungen (zu viel, zu wenig, falsch) können nämlich als enttäuschend, schmerzhaft, invasiv, grenzüberschreitend, ja sogar als gewalttätig erlebt werden: man denke an eine kalte, mechanische, nur auf „Versorgung“ ausgerichtete Berührung, ein ruppiger, aggressiver Umgang, körperliche Züchtigung, ein Mangel an Berührungskontakten, der bei Kindern oft zu Formen emotionaler Verwahrlosung führt, Berührung, die auf die andersartigen Bedürfnisse des Kindes/der Person keine Rücksicht nimmt, ungewünscht sexualisierter Kontakt bis hin zur emotionalen Katastrophe des sexuellen Missbrauchs.
Negative Berührungserfahrungen sind auch immer negative Beziehungserfahrungen. Sie haben weit reichende Folgen. Manche Menschen machen sich hart und unnahbar, sie „brauchen“ niemanden und „nutzen“ Berührung nur in Form von Aggression und Sexualität ohne Liebe. Andere fühlen den Mangel an kontaktvoller Berührung täglich als großen Schmerz in ihrem Körper und ihrer Seele und begeben sich verzweifelt in allerlei abhängige Positionen von anderen Menschen, aus Angst, allein und verlassen zu sein. Wieder Andere fühlen den Mangel und inneren Stress nicht bewusst und „beruhigen“ ihn mit Suchtmitteln, ständiger Aktivität, Angst, Depression oder anderen Symptomen. Sicher ist, dass Berührungserfahrungen in der Kindheit die Persönlichkeit und die Beziehungsgestaltung zu anderen und sich selbst in starker Weise beeinflussen und prägen.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen, die psychotherapeutische Unterstützung suchen, mehr oder weniger negative Beziehungs- und damit auch Berührungserfahrungen erlebt haben. In diesem Sinne kann es manchmal hilfreich sein, positive Berührungserfahrungen in der Therapie einzusetzen. Vielleicht legt die TherapeutIn ihre Hand auf die Stirn der KlientIn oder massiert die Beine oder den Bauch. Oder sie hält ihr tröstend die Hand. Auch Berührungsinterventionen zur Vitalisierung und zur Mobilisierung von Kraft und Stärke können manchmal eingesetzt werden. Außerdem ist haltende Berührung möglich: so kann die TherapeutIn der KlientIn den Arm um die Schultern legen oder ihr vorschlagen, sich an sie anzulehnen, um ihr das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben. Diese Interventionen können besonders dann indiziert sein, wenn die Person unter schmerzhaften oder mangelhaften Bindungserfahrungen leidet oder gelitten hat. Positive Bindungserfahrungen in der Therapie können zu korrektiven emotionalen Erfahrungen führen, die sich mittelfristig zeigen in einem positiveren Selbstbild (Selbstliebe), einem konfliktfreieren Kontakt zu anderen Menschen und einem zuversichtlichen und aktiv gestaltenden Zugang zum Leben überhaupt. Berührungserfahrungen in der Therapie sind zum Schutze der KlientIn (und der TherapeutIn) an ethische Richtlinien gebunden.